Kognitionspsychologische Ansätze sind nichts für die freie Wildbahn. Man kann mit Ihnen weder Textqualität beurteilen noch mehr Verständlichkeit erzeugen oder bessere Texte schreiben. Mehr über Textverständlichkeit und Textverstehensprozesse zu wissen, hilft aber dabei, zu erkennen, wie wichtig die Orientierung am Leser ist. Und das ist ja schon mal was!

Nur wer seine Adressaten kennt, kann seine Botschaft richtig platzieren.

Textverstehen als Zusammenspiel von Text und Leser

Als man anfing Textverständlichkeit wissenschaftlich zu untersuchen, ging man noch von einem rein textgeleiteten Vorgang aus. Dieser Prozess wurde als sogenannter „bottom-up-Prozess“ bezeichnet. Verstehen gelingt nach dieser Vorstellung, indem die Informationen aus dem Text (also von unten = bottom) aufgenommen und in die kognitiven Strukturen des Lesers (also nach oben = up) überführt werden. Die kognitionswissenschaftlichen Ansätze, die danach entwickelt wurden, bezogen eine weitere Konstante in die Forschung mit ein. Trommelwirbel: Es war der Leser! Konsequenterweise musste sich Verständlichkeit deshalb aus wechselseitigen Abläufen zwischen Text- und Lesermerkmalen ergeben. Der top-down-Prozess war geboren! Verstehen, so viel ist seitdem klar, ergibt sich nicht einfach durch das bloße Lesen eines Textes, sondern muss vom Leser aktiv hergestellt werden.

Die Entdeckung der Verständlichkeit

Verstehen gilt fortan als Interaktionsprozess, in dem bottom-up-Prozesse gemeinsam mit top-down-Prozessen zum Erfolg führen. Oder konkret: Verstehen gelingt, wenn ein Leser Informationen aus dem Text aufnimmt, vorhandenes Wissen aus dem Langzeitgedächtnis „herunterlädt“ und beides zusammenbringt. Denn nur wenn ein Leser auf Vorwissen zurückgreifen kann, ist es ihm überhaupt möglich, Schlussfolgerungen zu ziehen. Auf dieser Basis wiederum gelingt dann die Einordnung von Informationen in einen übergeordneten Sinnzusammenhang – die sogenannte Herstellung von Kohärenz.

Zwei dieser kognitionswissenschaftlichen Forschungsansätze gelten bis heute als zentral.

Schema-theoretische Ansätze: Das Vorwissen im Scheinwerferlicht

Schema-theoretische Ansätze sind in der Forschung stark kritisiert worden. Die Begrifflichkeiten seien unzulänglich, die Konzepte nicht konkret genug. Dennoch gelten die Erkenntnisse als zentral für die spätere Verständlichkeitsforschung. Ihr größter Nutzen: Sie haben verdeutlicht, wie wichtig das Vorwissen eines Lesers bei der Textverarbeitung ist. In Anlehnung an Bartlett (1932) definiert die Psychologin Prof. Dr. Ursula Christmann Schemata wie folgt:

„Schemata gelten (…) als die Basiseinheiten oder Bausteine des Wissens, als die grundlegenden Einheiten der Informationsverarbeitung schlechthin.“

Auch wenn dieser Schemabegriff in der kognitionswissenschaftlichen Forschung nicht einheitlich verwendet werde, so ließen sich laut Prof. Susanne Göpferich und Prof. Dr. Ursula Christmann doch die folgenden Gemeinsamkeiten herausstellen:

  • Schemata bestehen aus Konzepten und Relationen zwischen diesen Konzepten. Konzepte stellen dabei die kleinsten Einheiten des Wissens dar.
  • Diese Konzepte werden erworben durch „Abstraktion von Wahrgenommenem“.
  • Schemata sind hierarchisch nach „dem Allgemeinheitsgrad ihrer Konzepte organisiert“ und können eingebettet sein in sogenannte Subschemata.
  • Schemata besitzen Leerstellen – sogenannte Slots. Die Integration neuen Wissens in bereits vorhandene Wissensstrukturen erfolgt nach diesem Ansatz, indem diese Slots durch Informationen aus bottom-up-Prozessen beim Lesen eines Textes besetzt werden.
  • Schemata bedingen außerdem Erwartungen. Das bedeutet, dass ein Leser stets prüft, ob die neue Information zum bereits vorhandenen Wissen passt.
  • Diese Erwartungen steuern sowohl die Interpretation als auch die Schlussfolgerungsprozesse, die besonders dann nötig sind, wenn eine Information unvollständig ist.
  • Schemata entstehen induktiv aus vielen einzelnen Erfahrungen.

Wie Verstehen nach schema-theoretischen Ansätzen funktioniert:

Die Informationsverarbeitung läuft laut Christmann und Göpferich wie folgt ab: Die Aufnahme von Informationen beim Lesen aktiviert Schemata, die dann wiederum Subschemata, Erwartungen und Hypothesen anregen. In top-down-Prozessen fließen diese dann in den Verstehensprozess mit ein.

Mein Schema, dein Schema: Warum Text nicht gleich Text ist

Schemata sind laut Göpferich immer auch kulturell geprägt und können dementsprechend „kulturspezifische Unterschiede“ haben. Da Menschen im Laufe ihres Lebens ganz eigene Erfahrungen machen, bilden sich außerdem ihre Schemata zu den verschiedensten Lebensbereichen individuell aus. Dabei gilt: Je intensiver sich jemand bereits mit einem bestimmten Bereich auseinandergesetzt hat, desto umfangreicher und komplexer sind nach Göpferich die dazugehörigen Schemata im Langzeitgedächtnis. Das bedeutet konsequenterweise, dass verschiedene Leser die Verständlichkeit desselben Textes ganz unterschiedlich bewerten. Nicht verwechseln dürfe man diese individuellen Unterschiede allerdings mit Ungleichheiten, die sich in der Kommunikation zwischen Fachleuten und Laien ergäben.

Mentale Modelle: Wie die Vorstellungskraft beim Verstehen hilft

Mentale Modelle vereinen schema-theoretische und propositionale Ansätze. Nach ihnen wird Textbedeutung also auf zwei Arten – und damit „dual“ repräsentiert. Mentale Modelle sind geistige Bilder oder Szenen, die bei der Aufnahme von Informationen aus einem Text entstehen. Sie ermöglichen Lesern, Schlussfolgerungen zu ziehen und Voraussagen zu machen. Zudem lassen sich Phänomene besser verstehen sowie Handlungsentscheidungen einfacher treffen und kontrollieren. Die zentrale Funktion mentaler Modelle ist aber nach dem britischen Psychologen Philip Johnson-Laird eine andere: Ereignisse können vor dem geistigen Auge abgespielt werden. Das ermögliche unter Zuhilfenahme von Sprache, Realitätsbereiche analog darzustellen.

Wie Verstehen nach mentalen Modellen funktioniert:

Zunächst werden die Inhalte des Textes in Propositionen umgesetzt und diese dann zur Konstruktion der mentalen Modelle verwendet. Göpferich präzisiert das so:

„Die einlaufenden Propositionen werden (…) vor dem Hintergrund aktivierter, schon vorhandener mentaler Modelle realer oder imaginärer Weltausschnitte interpretiert und die mentalen Modelle mit den neu aufgenommenen Informationen angereichert, auf Konsistenz geprüft und gegebenenfalls modifiziert.“

Christmann unterscheidet in ein oberflächliches Verstehen auf der propositionalen Ebene und in ein tieferes Verstehen der im Text dargestellten Sachverhalte. Die Kognitionswissenschaftler Gert Rickheit und Hans Strohner differenzieren diese Grade sogar noch weiter – in vier kognitive Stufen der Sprachverarbeitung, die von der Worterkennung bis zum Sinnverstehen reichen.

Fazit:

So abstrakt die Kognitionswissenschaft für Praktiker auch ist: Das, was sie erreicht hat, ist immens! Erst mit dem Aufkommen schema-theoretischer und mentaler Modelle wurde der angemessene theoretische Hintergrund für das Verfassen verständlicher Texte geschaffen. Und erstmals wurde deutlich, wie wichtig es ist, seine Leser zu kennen. Zusätzlicher Pluspunkt: Die Kognitionswissenschaft bildet die Grundlage für die ersten anwendbaren, die instruktionspsychologischen Modelle, mit denen sich verständliche Texte produzieren lassen.

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